Synergie der Dimensionen „Strotoplastische Malerei“ von Rudolf Hürth
Von Prof. Dr. Frank Günter Zehnder – Internationale Kunstakademie Schloss Heimbach
Bilder malt man, Skulpturen schlägt man. Gemälde sind zweidimensional, Plastiken sind dreidimensional.
Das Bild ist so flach wie die Wand, auf der es hängt, die Plastik ist so greifbar wie Baum und Mensch. Die Verschiedenartigkeit und die Unterscheidbarkeit sind ganz einfach, meint man. Der wohl seit den frühesten Zeiten der Kunst bekannte Unterschied zwischen Realität und Vorstellung hat die schöpferischen wie die wissenschaftlichen Geister schon immer beschäftigt.Da die Malerei die dritte Dimension mit allem, was dazu gehört wie beispielsweise Raum und Perspektive, nur illusionistisch gewinnen kann, ist die Entwicklung der Malkunst angefüllt mit Versuchen, naturnahe Körperlichkeit und Räumlichkeit zu suggerieren. Trugen erst noch ganz simple Verfahren wie Überschneidung, Hoch- und Tiefsetzung zum visuellen Gewinn von Raum bei, so wurden mit der Fluchtpunktperspektive und vielen anderen malerischen Finessen sehr bald schon geradezu perfekte Scheinwelten der Wirklichkeit gegenüber gestellt. Zum Greifen nah schienen plötzlich gemalte Gewänder und Möbel.
Vom pastosen Farbauftrag bis hin zu Collageelementen hat die zweidimensionale Kunst nichts unversucht gelassen, um der haptisch erfahrbaren Wirklichkeit im Bild beizukommen.
Das begann bereits in der mittelalterlichen Malerei, wo bisweilen gemalten Körpern plastische Köpfe aufgesetzt wurden. Auch die Moderne etwa mit Jean Arp und die zeitgenössische Bildkunst beispielsweise mit Bram Bogart leisten weitergehende Beiträge. Im Cross-over der Künste schien alles ausprobiert und viel gewonnen. Selbst das von Alexander Calder ins Spiel gebrachte Mobile aus hängenden, beweglichen Flächen gehört in diese Such- und Findreihe.
Es gibt aber immer noch Überraschungen. Dazu zählen die strotoplastischen Bilder von Rudolf Hürth. Wer sie zum ersten Mal sieht, glaubt sich einem Mischwesen aus Skulptur, Malerei und Collage gegenüber. Die Arbeiten des Künstlers vereinen aber nicht eine bloße Addition von heterogenen Materialien, sondern sind aus einem Guss gedacht. Die jüngsten Werke lassen kaum noch eine Grenze zwischen den Dimensionen ausmachen.
Die Farben, die sich auf dem Bildträger ausbreiten, scheinen sich zu erheben, Schollen und unregelmäßige Erhöhungen zu bilden.
Man gewinnt den Eindruck, als strebe der Farbauftrag von der Bildfläche fort, verdichte sich und gehe schließlich in einen anderen Aggregatzustand über. Bruchlos verwandelt sich auf diese Weise Malerei in Plastik, merkbar kann man das Eine sehen und das Andere berühren. Erst noch ganz in die Fläche eingebunden, nimmt Farbe in vielen Werken Tempo auf und gebiert eine ganz autonome Bildwelt. Diese – die gewohnten Gattungsgrenzen überspringenden – Arbeiten bilden weder etwas ab, noch imitieren sie Realität. Im Grund genommen ist es pure Malerei, die als abstrakte bis informelle Formensprache im Unbestimmten bleibt und mit den Bildebenen spielt.
Strotoplastische Kunst nennt Rudolf Hürth sein autonom entwickeltes, beinahe heuristisches Verfahren. Es steht in der Tradition einerseits der farblich gefassten Skulptur und andererseits der sich aus der reinen Flächigkeit befreienden Malerei.
Da gibt es figürliche Arbeiten ebenso wie rein abstrakte, da wirken die dreidimensionalen Bildelemente (Ecce homo, 2010) wie auf die glatte Malfläche appliziert, aber in ihrer Farbigkeit und Brüchigkeit sind diese Objekte sehr stimmig, sie sprechen gleichermaßen die affektive wie die kognitive Wahrnehmung an. Sie deuten an oder erzählen, sie wecken Assoziationen oder stimulieren das Formverständnis, sie sind verhalten flächig (Dialog in Blau, 2010) oder explosiv dreidimensional (Sprich! Ich höre Dir zu, 2010), sie nehmen auf witzig-geistreiche Weise Erinnerungen aus der Wirklichkeit mit (Grenzgänger, 2009) oder entladen ihre gesamte Form- und Farbkraft in temperamentvoll geschnittenen oder gemalten Strudeln (Kontingente, 2009). Manche wiederkehrende Formen (Spectaculum, 2009) rufen Bleistift-Späne ins Gedächtnis, andere wirken wie Flugverhalten (Flug des Kranichs, 2009), wie hingeweht (Teile des Ganzen, 2009) oder wie abspringende Rinde (Empfang der Xymolisten, 2009). Auffallend ist ein jeweils gelungener Proporz von Fläche und Körper, der jeden Eindruck von gegenseitiger Fremdheit oder gar Störung wegwischt. Vielmehr gewinnen diese Werke zusätzlich einen hohen Grad an Räumlichkeit.
Ihre plastischen Auskragungen sind raumgreifend und nähern sich somit dem Betrachterstandpunkt.
Beide sind Teil desselben Raumes, und damit werden sogar abstrakte Gebilde realistisch, wird die Idee konkret. So schwinden die Grenzen zwischen Vorstellung und Existenz, zwischen Gattungen und Gewerken, zwischen Greifen und Begreifen. Der vehemente Farbauftrag und der dynamische amorphe Formenschatz sprechen von einem Prozess dauernden Ringens und von einer leidenschaftlichen Suche nach der Verschmelzung von Gattungen und Dimensionen. Strotoplastische Malerei ist der von Rudolf Hürth individuell entwickelte Begriff für eine unnachgiebige Annäherung an dieses Ziel.