Rudolf Hürths Bildwerke vom menschlichen Tun

Von Dr. Gerhard Kolberg – Museum Ludwig, Köln

Rudolf Hürth ist ein zeitgenössischer Bildhauer, der auch in unserem Jahrhundert der raschen Veränderungen, Moden und Stile gegenständlich orientierte Skulpturen schafft, die traditionelle, ja klassische Gestaltungsweisen mit modernen Ausdrucksformen verbinden. Der Künstler stellt dabei seine gestalterischen Mittel in den Dienst einer symbolischen und metaphorischen Thematik, die sowohl klassische als auch zeitlose Züge aufweist. Sein bevorzugtes gestalterisches Medium ist der gebrannte Ton und die Bronze – zwei Materialien, die sich ästhetisch sehr nahe kommen und visuell kaum voneinander zu unterscheiden sind.

Rudolf Hürths skulpturales Oeuvre steht formal in der Tradition der impressionistischen, der dynamischen Skulptur, wie sie Auguste Rodin und Medardo Rosso zum Ende des 19. Jahrhunderts gestalten, als auch partiell der Plastik des Jugendstils nahe, ein beschwingter Formungswille, der auch in Hürths Innenarchitekturen zum Ausdruck kommt. Seine Skulptur „Im Aufwind“ demonstriert anschaulich in ihrer gebogenen Gestalt mit dem weit gespannten Umhang die Sehnsucht, sich wie ein geflügeltes Wesen in die Lüfte zu erheben, leicht und frei zu sein, sich gehen zu lassen und unbeschwert zu sein.

Der Künstler bewirkt diesen Eindruck durch eine Auflösung der Körperform zugunsten des Fließenden durch die Reduktion auf das Wesentliche und durch weiche Strömungsfalten im flügelartigen Gewande.

Weite, expressive Gesten und Gewänder, in denen die Körper der Gestalten aufgehen oder metamorphosehaft zuweilen miteinander zu einer gestalterischen Einheit im Sinne der Thematik verschmelzen, finden wir auch in weiteren plastischen Werken von Rudolf Hürth.

Wer genau hinsieht, wird erkennen, dass der Künstler sich in seinen Gestalten nicht sklavisch an die Gesetzmäßigkeiten der Anatomie hält, sondern auch die Propor.:ionen im Sinne der Expressivität erhöht. An seiner Skulptur, die Hürth „Mit leeren Händen“ nennt, sind die Hände als wesentlicher thematischer Ausdrucksträger expressiv vergrößert, während sich das Haupt der Gestalt demutsvoll und verkleinert abwendet. Durch diesen proportionalen, ungestischen Kontrast erreicht Rudolf Hürth die sensible Spannung dieser skulpturalen Allegorie der Armut.

Viele seiner Skulpturen, wie es auch Plastiken von Rodin und Rosso zeigen, türmen sich sozusagen auf, wachsen aus dem Boden ihrer Basis empor, verschmelzen fast collagenhaft, mehrere Figuren und Situationen zu einem Ganzen. Dieses aspektreiche Kompositionsprinzip verkörpern z. B. die Plastiken „Eruption“ und „Vater mit Kind“, wobei erstere zwei Leiber auseinanderstrebend und die zweitgenannte eine Verschmelzung von zwei Körpern zeigt – dieses ganz im Sinne der jeweiligen Thematik.

Noch viel sensibler löst Hürth die mehrfigurige Komposition, die er „Zuneigung“ nennt: Ein Mann und eine Frau begegnen sich. Eine Distanz der Körper, ein Raum wird durch @in sachtes Berühren – und durch die Blicke überbrückt‘ zuerst gefühlsmäßig, dann haptisch-sinnlich. Im wahrsten Sinne des Wortes wird aus „Zuneigung“ eine Annäherung. Dem Betrachter allein bleibt es überlassen, zu erfühlen, was sich später noch ereignen könnte.

Dramatischer geht es in Rudolf Hürths Skulptur „Die Verschwörung“ zu: Ein wolkiges Gebilde, aus dem Gestalten und Köpfe andeutungsweise und schemenhaft herausragen – ganz im Sinne des Gerüchts und der Verheimlichung – entpuppt sich als Allegorie des Umsturzes. Sie scheint im weit gespannten Gewande die Menschen zu umfangen, zu bedrohen oder einzubeziehen. Wer ist hier Opfer oder Mitverschworener? Flüstern und sich-um-blicken hat die Skulptur im wahrsten Sinne des Wortes auch formal zum Inhalt. In einigen seiner Skulpturen hat Hürth die Abstraktion soweit vorangetrieben, dass er in die blockhaften Gestalten die Anatomie, z. B. Arme, aber auch weitere Figuren als Ergänzung zeichnerisch einritzt. So in der :Plastik „Der Überläufer“, in dem rot getönte Szenen auf diese Weise den Sockel der nach oben zu figürlich werdenden Skulptur schmücken.

Seine Auseinandersetzung als Plastiker und Innenarchitekt mit dem Raum kommt besonders ausdrucksvoll in der Skulptur zur Wirkung, die er „Rahmenbedingungen“ genannt hat. Eine Figur wird in fast surrealistischer Weise metamorphosenhaft zur Rahmenform, durch die hindurch sich weitere Gestalten winden. Welcher Realitätsebene gehören sie an? Der Illusion oder unserer Wirklichkeit? Rudolf Hürth lässt dem Betrachter viel Spielraum zum assoziativen Ergänzen, fordert seine persönliche Imagination heraus. Hürths Zeichnungen, oft Kombinationen von dynamischen Bleistiftschraffuren, raschen Konturen und verhaltenen Wasserfarbentönen, sind eben in diesem Sinne Anspielungen, nicht Ausformulierungen. Die Zeichnung als Ausdruck der Seele des Künstlers gibt häufig einen spontaneren Eindruck von seinem Wollen als das vollendete Werk, Rudolf Hürths Zeichnungen teilen uns in ihrem kraftvollen und dennoch sensiblen Strich, in ihrem malerischen Spiel mit Licht und Schatten als auch in ihren Darstellungen, die Gedanken und Ideenwelt des Bildhauers mit. Dennoch sind sie nicht nur im engeren Sinne als Bildhauerzeichnungen zu sehen, sondern vermitteln eine Dimension, deren Realitätsbezug erst der Betrachter mit seiner persönlichen Phantasie herstellt.